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Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien

Am 6. Februar 2023 ereigneten sich zwei große Erdbeben mit der Magnitude 7.8 und 7.7 im Südosten der Türkei und im Norden Syriens. Auf diese folgten weitere Erdbeben und Nachbeben mit hohen Magnituden. Wissenschaftler*innen und Geolog*innen wie Prof. Dr. Naci Görür und Prof. Dr. Celâl Şengör warnen aktuell davor, dass innerhalb der nächsten anderthalb Jahre weitere Nachbeben zu erwarten sind. Weiteren Prognosen zufolge ist durch die geologischen Gegebenheiten insbesondere die Millionenmetropole Istanbul einer großen Gefahr ausgesetzt.

Die Erdbeben zählen schon jetzt zu den schlimmsten Naturkatastrophen der letzten Jahrhunderte in dieser Region. Betroffene Provinzen in der Türkei sind Kahramanmaraş, Diyarbakır, Hatay, Adıyaman, Gaziantep, Elazığ, Malatya, Kilis, Osmaniye, Sanliurfa und Adana. In Syrien sind die Städte Aleppo, Latakia, Hama, Idlib und Tartus betroffen. Die zwei Epizentren lagen in Pazarcik und Ekinözü-Elbistan, beides Städte der Provinz Kahramanmaraş.

Betroffen von den Erdbeben, Nachbeben und deren Folgen sind laut Berichten 13.5 Millionen Menschen. Offiziell verzeichnet sind 51.907 Todesfälle, 118.000 Menschen wurden verletzt und mindestens 2,4 Millionen sind geflüchtet. 1,2 Mio Menschen befinden sich aktuell in offiziellen Notunterkünften. Schätzungen zufolge liegt die Dunkelziffer sehr viel höher.

Warum die Lage politisch ist

Bereits marginalisierte und stigmatisierte Bevölkerungsgruppen wie Alevit*innen, Kurd*innen, Jesid*innen, Christ*innen, Jüd*innen, Frauen, LGBTIQ*, Geflüchtete und von Armut betroffene Menschen und viele weitere sind von der Katastrophe unverhältnismäßig stark betroffen, werden aber bei der Verteilung der Hilfsgüter strukturell benachteiligt. Besonders in den Siedlungsgebieten alevitischer und kurdischer Minderheiten, welche im Epizentrum der Katastrophe stehen, kommen staatliche Hilfen zu spät oder gar nicht an. Ein großes Problem stellt die angemessene Versorgung der Überlebenden dar, so haben beispielsweise abgelegene, von Minderheiten bewohnte Dörfer, wenn überhaupt, sehr spät Unterstützung von staatlichen Hilfsstrukturen bekommen. An Hygieneartikel für Frauen wurde in der Erstversorgung nicht gedacht und queeren Menschen wurden an manchen Orten Hilfe verweigert. Auch aus Syrien gibt es Berichte darüber, dass kurdische Menschen in der Versorgung schlechter behandelt wurden. Hinzu kommt dort die Bombardierung von Rojava, unmittelbar am Tag nach dem Erdbeben durch den türkischen Staat, welche aufs Schärfste zu verurteilen ist. Geflüchtete, die auch vor dem Erdbeben schon in prekären Umständen gelebt haben, sind nun auf sich selbst gestellt. Neben unsicheren Lebensrealitäten fürchten sie nun auch weitere politische und gesellschaftliche Gewalt.

Während direkt und indirekt Betroffene der Politisierung der Katastrophe beschuldigt werden, wird die Tatsache ignoriert, dass die Situation selbst durch strukturelle Benachteiligung, Zensur und eine verstärkte Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit bereits höchst politisch ist. Um von Missständen abzulenken, wird die Katastrophe in der Erdbebenregion als „Schicksal“ bezeichnet und somit heruntergespielt, beispielsweise dadurch, dass die türkische Regierung nach dem Erdbeben rigoros gegen soziale Medien vorging. Angehörige und die Erdbebenopfer selbst nutzten Twitter zur Kommunikation, um die Position von Überlebenden sowie Orte, die ohnehin schon strukturell nicht versorgt waren, an die Rettungsteams zu übermitteln. So konnten hunderte Menschenleben gerettet werden. Um gegen „Beiträge im Internet und kriminelle Aktivitäten durch diese Beiträge“ vorzugehen, hat die Behörde für Informations- und Kommunikationstechnologie (BTK) die Nutzung eingeschränkt. Ziel war es mutmaßlich, oppositionelle Stimmen stummzuschalten und die Sichtbarkeit von Kritik am Erdoğan-Regime zu bremsen. Daraus resultierte, dass Hilferufe weniger gehört wurden und die Situation sich damit verschlimmerte. Es wird deutlich, dass der Versuch unternommen wird, das staatliche Versagen zu verbergen und von Missständen abzulenken, vor allem im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen.

Wie wichtig die Kritik an der Politik der Regierung ist, zeigt sich anhand dessen, was in den letzten Jahrzehnten in der Prävention der Erdbebenfolgen falsch gelaufen ist. Nach dem Erdbeben 1999 wurde die Erdbebensteuer in der Türkei eingeführt, welche für erdbebensichere Bauten, sowie weitere Maßnahmen des Katastrophenschutzes genutzt werden sollte. In den letzten Wochen wurde jedoch deutlich, dass Gesetze und Bestimmungen aufgrund von Korruption und Vetternwirtschaft nicht ausreichend beachtet und umgesetzt wurden. Aufgrund dessen erfüllten die Bauten die erforderlichen Sicherheitsstandards nicht und kosteten damit zahlreichen Menschen das Leben. Es ist seit Langem bekannt, dass die Türkei eine von Erdbeben betroffene Region ist. Wie man so präventiv wie möglich mit dieser Situation umgehen kann, zeigt Japan. Das ebenfalls von Erdbeben betroffene Land hat aus den eigenen Verlusten gelernt und sich dem Erdbebenschutz verschrieben. Schnell wurde in den Sozialen Medien der Vergleich zu den erdbebensicheren Bauten in Japan aufgezeigt und wie diese durch bewährte Maßnahmen dem Einsturz bewahren konnten, auch bei einer hohen Magnitude.

Sabotage der Hilfen

Die Alevitischen Gemeinden in der Türkei und in Europa haben unter anderem Sachspenden gesammelt und in die betroffenen Regionen geschickt. Leider wurden und werden die Lkw bei der Einreise aufgehalten oder in den Regionen selbst unter anderem von der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD in Beschlag genommen. Sie dürfen entweder nur weiterfahren, wenn AFAD- oder AKP-Schilder/Aufkleber genutzt werden oder ein Teil der Spenden an AFAD übergeben werden. Diese werden dann teilweise weiterverkauft. Außerdem werden die besetzten Alevitischen Gemeinden, wie die in Hasankoca in einem Chaos zurückgelassen. Neben der fehlenden Hilfe seitens der Regierung werden zusätzlich zivile Hilfen sabotiert. Alevitische Gemeinden, die den Menschen vor Ort akut und selbstorganisiert helfen, werden vom AKP-Regime mit Zwangsverwaltungen behindert und die Spenden werden beschlagnahmt.

Die größte Hilfsorganisation der Türkei, Kızılay (Türkischer Roter Halbmond) agiert durch den Verkauf von Zelten an selbstorganisierte Hilfsorganisationen vor Ort und dem Verkauf von Blutspenden mit kapitalistischen Interessen und profitiert durch die Katastrophe. Derartig profitorientierte Vorgehensweise waren beim türkischen roten Halbmond bereits vor der Erdbebenkatastrophe bekannt. Spenden des Kızılay an Kooperationspartner vor Ort landen in einem Gefecht von “Steuervermeidung”, wovon die Familie Erdoğan und ihre geopolitischen Interessen schlussendlich profitieren.

Wieso das “vereinfachte” Visaverfahren nicht einfach ist

Tage nach dem Erdbeben kündigte die deutsche Bundesregierung an, dass Visaverfahren erleichtert werden, damit in Deutschland lebende Verwandte ihre betroffenen Angehörigen unkompliziert aus dem Katastrophengebiet holen können. Jedoch ist die Vergabe dieser Besuchsvisa noch immer mit unüberwindbaren bürokratischen Hürden verbunden. Die Betroffenen haben nicht die Möglichkeiten, die Anforderungen zu erfüllen, da die erforderlichen Unterlagen in den Trümmern verloren gegangen sind und der Zugang zur Beantragung neuer Unterlagen massiv erschwert ist. Hierbei muss im Besonderen auf die Doppelbelastung der von Armut betroffenen Menschen hingewiesen werden, die die finanziellen Mittel zur Beantragung der Unterlagen nicht haben, da hierfür teilweise weite Reisen in andere Städte erforderlich sind. Des Weiteren ist die Begrenzung des Besuchsvisums auf 90 Tage in dieser Situation nicht zielführend, da in dieser Zeit die kritische Phase in den Katastrophengebieten nicht überwunden sein wird und die Menschen de facto zurück in die Obdachlosigkeit kehrenmüssen. Zudem muss auf die Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass Menschen aus Nordsyrien die Möglichkeit, dieses Visum zu beantragen, nicht offensteht.

Fehlende (strukturelle) Solidarität von der deutschen Mehrheitsgesellschaft

Da ein großer Teil der türkei- und syrienstämmigen Menschen in Deutschland aus den betroffenen Gebieten stammen und/ oder direkt betroffene Familie und Bekannte haben, ist auch hier die Trauer und Anteilnahme sehr groß. Vor diesem Hintergrund wünschen wir uns, sowohl strukturell als auch von unserem direkten Umfeld, Rücksicht und Mitgefühl für die Situation. Im Besonderen fordern wir von Universitäten und Schulen, dass sie die Situation konkret thematisieren und dass für direkt und indirekt betroffene Student*innen und Schüler*innen hinsichtlich der Prüfungen eine Ausnahmeregelung gefunden wird, sodass sie in ihren durch das Erdbeben ausgelasteten psychischen und zeitlichen Ressourcen entlastet werden.

Gleichzeitig ist uns die Solidarität von anderen Jugendverbänden und Verbündeten sehr wichtig und empowernd. Wichtig hierbei ist, dass Betroffenen zugehört wird und sie mit ihren Anliegen ernst genommen werden. Wir stehen mit der Betroffenheit nicht alleine da und die gelebte Solidarität zeigt allen, dass wir eine Gesellschaft sind, die aufeinander achtet und sich gemeinsam einsetzt.

Aufgrund all dieser Gegebenheiten fordern wir:

von / in der Türkei:

  • Den Rücktritt und die strafrechtliche Verfolgung der Regierung, unter anderem des Innenministers Süleyman Soylu sowie des Chefs der türkischen Katastrophenschutzbehörde AFAD
  • Die staatliche Zensur und das Verbreiten von Falschinformationen seitens der Regierung muss beendet werden
  • Der Notstand darf nicht missbräuchlich für die anstehende Wahl ausgenutzt werden
  • Transparenz in Verteilung und Verwendung von Spenden- und Steuergeldern.
  • Entkriminalisierung und Unterstützung von zivilen Hilfs-, weiteren lokalen Organisationen und Vereinen
  • Es muss transparent aufgeklärt werden, wo finanzielle Mittel hingeflossen sind, vor allem die Erdbebensteuer und Spenden
  • Kooperation der türkischen Behörden bei der Ausstellung neuer Dokumente

von Deutschland / Europa:

  • Die Bundesregierung soll zivile Hilfsorganisationen direkt unterstützen, damit die Hilfe bei den Betroffenen ankommt
  • Eine klare Positionierung gegenüber dem NATO-Partner Türkei, wenn es sich um die Menschenrechte, vor allem marginalisierter Gruppen sowie den möglichen Machtmissbrauch bezüglich der kommenden Wahlen handelt.
  • Waffenlieferungen an die Türkei müssen gestoppt werden, weil sie damit kurdische Gebiete, die vom Erdbeben betroffen sind, angreifen.
  • Realisierbare Visaerleichterungen und erfüllbare Anforderungen, da geforderte Dokumente in den Trümmern liegen können.

Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die vom Erdbeben betroffen sind und fordern Aufklärung und Konsequenzen.

SOLIDARITÄT JETZT! Dayanışma yaşatır!

Quellen:

  • https://disorient.de/magazin/erdbeben-kurdistan-syrien-tuerkei-spenden-wohin
  • https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/erdbeben-in-der-tuerkei-mit-dem-logo-der-akp-18676096.html
  • https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-erdbeben-versorgung-101.html
  • https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/krisenpraevention/humanitaere-hilfe/erdbeben-tuerkei-syrien/2580184
  • Katastrophen-Kaizen: So geht Japan beim Erdbebenschutz voran (nzz.ch)
  • https://www.gfbv.de/de/news/erbeben-in-der-tuerkei-10962/
  • https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/spenden-erdogan-erdbebenforschung-das-mussen-sie-zur-katastrophe-in-syrien-und-der-turkei-wissen-9331847.html
  • https://www.stern.de/gesellschaft/erdbeben-in-der-tuerkei-und-syrien–bei-den-kurden-kommt-kaum-hilfe-an-33185084.html
  • https://www.fr.de/politik/kreuz-tuerkischer-roter-halbmond-erdbeben-tuerkei-zelte-skandal-rueckendeckung-deutsches-rotes-92122039.html
  • https://www.reuters.com/world/middle-east/blinken-turkey-backs-speedy-nordics-accession-nato-2023-02-20/
  • https://www.instagram.com/reel/Co9aj4xtJxd/?igshid=MDJmNzVkMjY=