Mehr als ein Drittel aller jungen Menschen in Deutschland hat heute nach Angaben des Statistischen Bundesamts einen sogenannten Migrationshintergrund.[1] Je jünger die Altersgruppe, desto höher der Anteil. Diese Entwicklung hält seit Jahren an. Als selbstorganisierte Interessensvertretungen junger Menschen in Deutschland ist Migration für uns als Jugendverbände und Jugendringe daher ein Querschnittsthema für unsere jugendpolitische Arbeit. Anders formuliert: Jugendpolitik und Migrationspolitik gehören untrennbar zusammen.  

Für unsere politische Arbeit ergeben sich daraus folgende Anliegen und Forderungen:

  • Jugendverbände und Jugendringe als Akteure der Migrationspolitik anerkennen und beteiligen
  • (Post)migrantische Jugendverbände gezielt fördern und stärken
  • Wahlrecht auf alle (jungen) Menschen mit Lebensmittelpunkt Deutschland ausweiten
  • Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren
  • Strukturelle Diskriminierung bekämpfen – Sozial-ökomische Teilhabe junger Menschen verwirklichen
  • Mehrsprachigkeit junger Menschen als Normalität anerkennen und als Kompetenz fördern

Jugendverbände und Jugendringe als Akteure der Migrationspolitik anerkennen und beteiligen

Die Konsultation zivilgesellschaftlicher Organisationen, vor allem von (post)migrantischen, neuen deutschen und Migrant*innenselbstorganisationen sowie Zusammenschlüssen von BIPoC [2], im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik hat sich auf Bundes-, aber auch auf Landes- und kommunaler Ebene zunehmend etabliert. Eine Vielfalt von Netzwerken bündelt die Stimmen dieser Akteur*innen gegenüber Entscheidungstragenden in Politik und Verwaltung. Das ist das Verdienst jahr(zehnt)elangen Engagements von Einzelpersonen, Vereinen und Verbänden. Hierbei sind jedoch selbstorganisierte Jugendorganisationen immer noch unterrepräsentiert.

Angesichts der demografischen Entwicklungen müssen besonders auch Jugendverbände in diesem Kontext auf allen politischen Ebenen noch sehr viel mehr als bisher als Akteure der Migrationspolitik anerkannt und entsprechend einbezogen werden. Sie sind etablierte Strukturen, in denen Kinder und Jugendliche selbstorganisiert zusammenkommen, ihre Bedarfe artikulieren, Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen. Besondere Berücksichtigung muss dabei Jugendverbänden zukommen, die im Bereich Migration einen verbandlichen Schwerpunkt setzen und/oder sich explizit als Migrant*innenjugendselbstorganisationen, (post)migrantische bzw. neue deutsche Jugendorganisationen oder als Zusammenschlüsse von BIPoC verstehen.

(Post)migrantische Jugendverbände gezielt fördern und stärken 

Auf Bundesebene werden seit 2013 ausgewählte Migrant*innenselbstorganisationen, (post)migrantische und neue deutsche Organisationen sowie Zusammenschlüsse von BIPoC gezielt in ihrer strukturellen Entwicklung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) gefördert. Ziel dieser Strukturförderung ist es, sie in ihrer Rolle als Ansprechpartner*innen und Interessenvertretungen für Verwaltung und Politik auf Bundesebene zu stärken und ihre Expertise für die bundesweite Migrationspolitik nutzbar zu machen. Finanzielle Förderung und professionelle Organisationsentwicklung wirken hier zusammen.[3]

Angesichts der anhaltenden demografischen Entwicklung braucht es innerhalb des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie der entsprechenden Förderinstrumente auf Landes- und kommunaler Ebene eine dem BMI-Ansatz vergleichbare Förderung. Nur durch verlässliche finanzielle Zuwendungen und begleitende Unterstützungs- und Qualifizierungsmaßnahmen können (post)migrantische Jugendverbände eine bundesweite, d.h. auch strukturschwache Regionen und Bundesländer abdeckende, Infrastruktur etablieren. Einen erhöhten strukturellen Nachholbedarf gibt es in den östlichen Bundesländern. Gezielte Förderung ist die Voraussetzung dafür, dass (post)migrantische Jugendverbände in ganz Deutschland attraktive Angebote für ihre Zielgruppen gewährleisten können und in der Lage sind, gegenüber Dritten ihre Rolle als Interessenvertretungen effektiv wahrzunehmen.  

Grundsätzlich braucht es im Kontext einer (post)migrantischen Gesellschaft einen machtkritischen Blick auf Voraussetzungen und Rahmenbedingungen staatlicher Fördermittelvergabe. Förderstrukturen müssen zudem flexibler gestaltet werden, da in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft stets neue Selbstorganisationen entstehen und ihren Platz in der Zivilgesellschaft suchen.

Wahlrecht ausweiten auf alle (jungen) Menschen mit Lebensmittelpunkt Deutschland

Politische Teilhabe kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, aber das Wahlrecht ist von herausragender Bedeutung für die demokratische Mitgestaltung. Während Jugendverbände und Jugendringe schon lange die Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre fordern [4], bleibt weiterhin ein großer Teil der Bevölkerung ausgeschlossen: In Deutschland sind auf Bundesebene über 12% der Bevölkerung, d.h. über 10 Millionen Menschen, nicht wahlberechtigt, da sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Selbst in Deutschland lebende EU-Bürger*innen dürfen nur an Kommunal- und Europawahlen teilnehmen. Allen anderen Drittstaatsangehörigen, also fast 6 Millionen Menschen ohne Staatsbürgerschaft eines EU-Landes, ist jegliche demokratische Mitbestimmung versagt.[5] Im europäischen Vergleich ist Deutschland damit bei der Gewährung des Wahlrechts besonders streng. Diese Diskrepanz zwischen Bevölkerung und Wählerschaft ist unhaltbar.

Die Knüpfung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit muss aufgehoben werden. Wer langfristig in Deutschland lebt, hier also den eigenen Lebensmittelpunkt hat, muss Einfluss auf sein Lebensumfeld nehmen können. Deutschland ist Einwanderungsland und muss sein Wahlrecht an diese Realität anpassen. Aktuell bilden Parlamente, Parteien und migrationspolitische Rahmenbedingungen diese Realität nicht ansatzweise ab. Rechtsextremistische und rassistische parlamentarische Akteur*innen agieren in dem Wissen, dass viele der betroffenen Personen ihnen nicht an der Wahlurne antworten können. Die Ausweitung des Wahlrechts ist notwendig für die Stärkung unserer Demokratie.

Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht modernisieren

Das Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht passt nicht zur gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Es steht im Widerspruch zu den Lebensrealitäten vieler junger Menschen, die hier geboren sind, ihre ganzen oder großen Teile ihrer Kinder- und Jugendzeit hier verbracht haben und keinen anderen Lebensmittelpunkt als Deutschland kennen – aber dennoch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit oder einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. (Ketten)Duldung, ungeklärte Aufenthaltssituation o.ä. bedeuten für junge Drittstaatsangehörige, jederzeit aus der eigenen Lebenswelt abgeschoben werden zu können. Wir sind gegen Entrechtungsgesetze, Sanktionsmaßnahmen und jahrelange Rechtsunsicherheiten, die junge Menschen und ihre Familien belasten oder sogar voneinander getrennt halten. Fehlende Langzeitperspektiven sowie fortwährender behördlicher Druck produzieren Unsicherheit und Stress, kosten Zeit und Energie – mit negativen Auswirkungen auf (mentale) Gesundheit und Zukunftschancen junger Menschen.

Jungen Menschen mit Lebensmittelpunkt in Deutschland muss der Weg zu einem gesicherten Aufenthaltsstatus und auch zu einer schnellen und einfachen Einbürgerung offenstehen – auf Wunsch müssen bisherige Staatsangehörigkeiten beibehalten werden dürfen. Die rechtlichen Grundlagen, Voraussetzungen und Verfahren für den Aufenthalt und die Einbürgerung in Deutschland müssen dazu grundsätzlich reformiert und modernisiert werden. Alle in Deutschland lebenden jungen Menschen müssen gleichberechtigen Zugang zu Rechten, Chancen und Sozialleistungen haben. Die UN-Kinderrechtskonvention, die auch Deutschland ratifiziert hat, gehört vollumfänglich umgesetzt und ihre Verankerung im Grundgesetz muss weiterhin Ziel bleiben.

Strukturelle Diskriminierung bekämpfen – Sozial-ökomische Teilhabe junger Menschen verwirklichen

Die Zahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen wächst seit Jahren kontinuierlich an, obwohl ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung gleichbleibend niedrig ist. Besonders betroffen sind junge Menschen in der Altersgruppe von 18 Jahren bis Mitte 20, also in der Lebensphase, die von systemischen Übergängen in Ausbildung, Studium oder Beruf geprägt ist und oft Ortswechsel mit sich bringt.[6] Grund ist vor allem die politisch verankerte Knüpfung der Startchancen junger Menschen an ihre familiäre Situation. So werden soziale Ungleichheiten schon in jungen Jahren fortgeschrieben und verstärkt.

Junge Menschen mit Migrationsbiografie sind in ihrer sozial-ökonomischen Teilhabe zusätzlich benachteiligt, da sie struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind – im Bildungswesen, am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt, durch Behörden, am Wohnungsmarkt, im Gesundheitswesen sowie bei Alltagsgeschäften und in ihrer Freizeit. Schlechte Empfehlungen durch Lehrer*innen, nicht anerkannte Bildungs- und Berufsabschlüsse sowie eine fehlende Arbeitserlaubnis sind nur einige Beispiele dafür, wie die Teilhabe junger Menschen mit Migrationsbiografie aktiv und langfristig verhindert wird. 

Es ist daher dringend notwendig, dass es auf allen politischen Ebenen wirksame Antidiskriminierungsgesetze gibt, diese gegenüber staatlichen Institutionen und der Privatwirtschaft konsequent umgesetzt und bei Bedarf rasch nachgeschärft werden. Es muss politisch sichergestellt werden, dass junge Menschen in Deutschland dieses Recht auf Schutz vor Diskriminierung auch effektiv einfordern können, damit ihre Teilhabe vollumfänglich verwirklicht werden kann.

Mehrsprachigkeit junger Menschen als Normalität anerkennen und als Kompetenz fördern

Immer mehr junge Menschen in Deutschland wachsen mehrsprachig auf.[7] Viele Familien haben andere Familiensprachen als Deutsch. Häufig machen Kinder und Jugendliche die Erfahrung, dass ihre Mehrsprachigkeit als Defizit gelabelt und primär als Herausforderung für künftige Bildungserfolge gesehen wird. Das gilt vor allem, wenn es sich bei den Familiensprachen um nicht-westeuropäische Sprachen handelt. Diese Stigmatisierung von Sprachen ist diskriminierend und wirkt sich negativ auf das Selbstbild junger Menschen aus. 

In allen gesellschaftlichen Bereichen – am Arbeitsmarkt, in Behörden sowie im Gesundheits- und Bildungswesen etc. – muss Mehrsprachigkeit als Normalität und Kompetenz anerkannt werden. Bei Bedarf müssen in diesen Kontexten professionelle Dolmetscher*innen oder Sprachmittler*innen bereitgestellt werden. Besonders im von den Bundesländern verantworteten Bildungswesen muss Mehrsprachigkeit fester Teil der Bildungskonzepte sein und herkunftssprachlicher Unterricht flächendeckend angeboten werden, damit junge Menschen ihre Sprachkompetenzen vollumfänglich ausbilden können (Multiliteralität). Lehrpersonal muss standardmäßig für den Wert von Mehrsprachigkeit sensibilisiert werden und diese als Ressource wahrnehmen. 

 

[1] https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/150599/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund-nach-alter/

[2] https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/people-of-color-poc/ 

[3] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/integration/migrantenorganisationen/migrantenorganisationen-node.html

[4] https://www.dbjr.de/xtra/wahlaltersenken

[5] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Infopapier_Vielfalt_in_der_Politik.pdf und https://mediendienst-integration.de/integration/politische-teilhabe.html

[6] https://www.jugendgerecht.de/eigenstaendige-jugendpolitik/debatten-dialog/arme-jugendliche-von-der-politik-vergessen-/

[7] https://mediendienst-integration.de/integration/mehrsprachigkeit.html