Alevitisches Empowerment – für eine solidarische Gesellschaft
Im Jahr 2019 haben wir wenige Monate vor dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau unseren Antrag „Fight Racism!“ beschlossen. Unsere Haltung hat sich nicht geändert und die Situation hat sich zugespitzt.
Mit dem rechtsterroristischen Anschlag am 19. Februar 2020 wurde 9 Menschen in Hanau ihr Leben genommen. Der Tag hat uns alle sehr erschüttert. Die Angehörigen wurden taktlos behandelt und mussten teilweise auf Ermittlungen bestehen. Die Tode von Ferhat, Gökhan, Mercedes, Vili Viorel, Said Nesar, Kaloyan, Sedat, Fatih und Hamza verpflichten uns alle, uns aktiv für eine offene Gesellschaft und für eine funktionierende Demokratie einzusetzen.
Jede Form von Rassismus – Anschläge als schlimmste Form – sorgen dafür, dass junge Menschen traumatisiert werden. Sie müssen sich Gedanken um ihre Sicherheit machen, während andere Altersgenoss_innen solche Probleme nicht haben. Nach Hanau haben sich viele Mitglieder in ihrem Alltag unsicher gefühlt.
Mit Hanau, dem rassistischen Mord an George Floyd in Minneapolis, dem antisemitischen Attentat in Halle und vielen weiteren in den letzten Jahren wurde klar, dass der Kampf gegen Rassismus verstärkt werden muss. Allein durch die Dichte der Taten kann die Dominanzgesellschaft diesen Kampf nicht mehr ignorieren, sie kann nicht mehr nur kurze Zeit Anteil nehmen und dann weiterleben wie gehabt. Die gesamte Gesellschaft trägt Verantwortung dafür, allen ein Leben in Frieden zu ermöglichen. Es muss bewusst werden, dass diese Taten nicht der Anfang von Diskriminierung sind, sondern das Ende.
Zivilcourage muss gefördert werden. Das Einschreiten und Solidarisieren sollten keine Ausnahme sein, sondern der Regelfall. Weniger Einsatz führt dazu, dass sich Täter_innen sicherer fühlen, weil sie keine Konsequenzen zu befürchten haben. Der digitale Raum muss auch als öffentlicher Raum gesehen werden. Gewalt im Netz ist häufig der erste Schritt, menschenfeindliches Gedankengut zu verbreiten, zu vertreten und zu teilen und ist mit analoger Gewalt verbunden[1]. Alevitische Jugendliche bekommen täglich mit, wie über sie hergezogen wird. Sie lesen Kommentare mit unmenschlichen Anschuldigungen gegenüber Alevit_innen oder bekommen Drohnachrichten. Gerade in Sozialen Medien, die in der jungen Generation beliebt sind, wie Instagram und TikTok werden viele Hass- und Hetznachrichten verbreitet. Einige fühlen sich dazu gedrängt, ihre eigene Identität, ihre Religion und ihre Ansichten zu rechtfertigen, da sie das Gefühl vermittelt bekommen, falsche Auffassungen zu haben.
Insbesondere junge alevitische Frauen* und Mädchen* sind von Übergriffen im Digitalen Raum betroffen. Sie werden sexualisiert: Typische zutiefst verstörende Aussagen sind „mit ihr kannst du machen was du willst“, „sie hat ohnehin keine Ehre“ oder „sie ist doch sowieso ungläubig“. Sie werden reduziert und als Objekt betrachtet, das sich Männer* einfach nehmen können. Diese Kultur der Sexualisierung der alevitischen Frau* nimmt zu und muss bekämpft werden. Diese Kultur steht für alles, wofür wir nicht stehen. Alevitische Frauen* erfahren nach Zeynep Arslan auf zwei Weisen einen Vergleich zu z.B. sunnitischen Frauen*: 1. werden sie als nicht-unterdrückte, freie und gleichberechtigte Frauen* dargestellt und 2. als unsittlich dargestellt, wenn sie konservativen patriarchalen Vorstellungen nicht entsprechen und ein wahrhaft selbstbestimmtes Leben führen.[2]
Diese Diskriminierungsform erfahren alevitische Frauen* von nicht-alevitischen Menschen aus der Minderheitengesellschaft, aber auch von alevitischen Personen, die nach Arslan „sunnitisiert“ sind: „In der Frage der Rolle und Position der alevitischen Frauen* in der Gesellschaft und spätestens bei der Diskussion um die Jungfräulichkeit der alevitischen Frauen* gleichen die Alevit_innen dezidiert der von ihnen so kritisierten patriarchalisch geprägten sunnitischen Gesellschaft. Sie „sunnitisieren“ sich sozusagen.“[3]. Die Mehrfachbetroffenheit der Alevitischen Frau* (Intersektionalität) ist keine Sache, die nur alevitische Frauen* betrifft. Alle sind gemeinsam verantwortlich, diese Ungleichbehandlung zu bekämpfen. Gleichberechtigung ist ein Grundpfeiler der alevitischen Lehre. Wenn diese aber nur in der Theorie gilt und sonst patriarchale Werte gelebt und weitergegeben werden, widerspricht sich das.
In diesem Zuge muss über die Minderheitengesellschaften gesprochen werden. Es gibt nicht eine homogene Gruppe, die einfach als Minderheit gezählt werden kann. In der Öffentlichkeit werden beispielsweise „die Türken“ oder „die Muslime“ als Synonym für alle Menschen genutzt, die sprachlich oder optisch vermeintlich in diese Gruppen zu passen scheinen. Das ist ignorant und das Gegenteil von einer toleranten und offenen Gesellschaft. Ganzen und vor allem vielen Gruppen wird dadurch ihre Existenz aberkannt. Sogenannte Gastarbeiter, wurden als eine Masse betrachtet und ihre Vielfalt völlig übergangen. Bis heute sitzt dies in den Köpfen der Menschen, weil sie es nicht besser gelernt haben. Es hängt von Zufällen und tragischen Ereignissen ab, ob die Öffentlichkeit und Gesellschaft diese Vielfalt erkennen. Tragischerweise ist allgemein bekannt, dass es die Glaubensgemeinschaft der Ezid_innen gibt, die vor dem grausamen Genozid durch den IS nicht vielen etwas gesagt hätte. Hier ist insbesondere auf das Leid ezidischer Frauen* hinzuweisen. Da sie als „ungläubig” gelten für den IS, wurden sie als Sexsklavinnen missbraucht. Mit Blick auf die Zahl der IS-Sympathisant_innen und -Anhänger_innen bedeutet das für unsere Gesellschaft, dass in Deutschland Formen von Faschismus Fuß fassen konnten, die ihre Ursprünge in nicht-deutschem Faschismus haben. Das prominenteste Beispiel ist die skandalöse Tatsache, dass die Grauen Wölfe die größte Rechtsextreme Gruppe in Deutschland darstellen.[4]
Weiterhin ist erschreckend, wie sehr junge alevitische Menschen verschiedene Diskriminierungsformen hinnehmen, weil es vielleicht ihre Coping-Strategie[5] ist. Je mehr Diskriminierungserfahrungen man macht oder je größer die Angst vor diesen Erfahrungen ist, desto höher ist das psychische Leiden und die Folgen können verheerend sein.[6] Dem muss ein Bewusstsein entgegengestellt werden, das diese Diskriminierungserfahrungen nicht duldet. „İncinsen de incitme“ (Deutsch: Verletze nicht, auch wenn du verletzt wirst.) von Hünkar Bektaş Veli heißt nicht, dass man sich Ungerechtigkeit und Diskriminierung aussetzen soll. Sondern vielmehr, dass man es nicht selbst verbreiten soll. Daher ist es zunächst wichtig, Diskriminierung, z.B. Rassismus, zu erkennen und als solchen zu benennen. Der nächste Schritt ist eine selbstkritische Reflektion des eigenen Verhaltens, um nicht selbst zu diskriminieren, weder einzelne Menschen noch ganze Gruppen.
Abschließend muss Betroffenengruppen von Diskriminierung, aber insbesondere Nicht-Betroffenen bewusst werden, dass erstere keine „Opfer“ im Sinne von schwachen, handlungsunfähigen Menschen sind, sondern Betroffene, welche selbstbestimmt entscheiden, wie sie damit umgehen.
Unsere Forderungen sind:
- Zum Schutz vor rechter Gewalt muss es flächendeckende Schulungen zum Erkennen und zum Umgang mit menschenfeindlichen Ideologien für Schlüsselbereiche wie Sicherheitsbehörden, Lehrer_innen und in der Justiz geben.
- Alle rassistischen Gewalttaten müssen transparent und lückenlos aufgeklärt werden.
- Zum Schutz vor rechter Gewalt muss es flächendeckende Schulungen zum Erkennen und zum Umgang mit menschenfeindlichen Ideologien für Schlüsselbereiche wie Sicherheitsbehörden, Lehrer_innen und in der Justiz geben.
- Eine Verschärfung des Waffengesetzes muss vor rassistischer Gewalt schützen.
- Die Verfolgung von Hass und Hetze im Netz muss ausgebaut werden.
- Es braucht nicht nur deutlichen und durchgreifenden Einsatz gegen Rechtsextremismus von Nazis, sondern von jeglichem Rechtsextremismus, beispielsweise dem Türkischen.
Alevitisch sein heißt, antifaschistisch, antirassistisch, humanistisch und pluralistisch zu sein.
Der BDAJ ist mitverantwortlich, wenn an der Situation etwas verändert und vor allem verbessert werden soll. Folgende Maßnahmen sind geeignet, um Empowerment im und mit dem BDAJ zu stärken und sich mit diesen wichtigen Themen zu beschäftigen:
- Der BDAJ erstellt ein E-Mail-Postfach oder eine andere Stelle, bei der man anonym über rassistische Erfahrungen berichten kann. Das soll die Möglichkeit bieten, Erfahrungen mitzuteilen, um diese zu thematisieren. Der BDAJ stellt in dem Zusammenhang keine Fachberatungsstelle dar. Vielmehr geht es um Empowerment innerhalb der Community.
- Die Daten können empirisch erhoben werden. Mit den anonymen Daten soll Infomaterial erstellt werden, um den Mitgliedern das Aufmerksam-Machen und Thematisieren zu erleichtern. Diese wollen verständlicherweise nicht ihre eigenen Erfahrungen preisgeben, um darauf reduziert zu werden.
- Dialoge mit anderen Minderheiten sollen Parallelen aufzeigen, sofern sie vorhanden sind, um das Empowerment in der jungen Minderheitengesellschaft zu stärken. Diese Dialoge können in verschiedenen Veranstaltungsformaten umgesetzt werden.
- Bildungsauftrag: Informationen und Gedenkaktionen sollen aktiv verbreitet und durchgeführt werden, beispielsweise durch eine Social Media Kampagne. Das Erinnern und Gedenken, z.B. an Sivas oder Dersim soll ebenso dazu führen, dass Freund_innen und befreundete Verbände mehr über uns erfahren, sich diese Daten merken und sich solidarisieren können.