Wir haben einen Offenen Brief in Reaktion auf den Lagebericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“ (2023) des Bundesministerium des Inneren und für Heimat und des Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit geschrieben. Der Bericht thematisiert und benennt viele wichtige Bedarfe und Herausforderungen zum Thema Antimuslimischer Rassismus. Die Alevitische Jugend unterstützt ausdrücklich den Kampf gegen die Diskriminierungen von Muslim*innen und muslimisch gelesenen Menschen.
Als muslimisch Gelesene, sind Alevit*innen ein Teil der Gruppe, die von Antimuslimischen Rassismus betroffen sind und finden im Bericht auch Erwähnung. Leider geschieht dies aus unserer Sicht als alevitische Organisation nicht zufriedenstellend. Alevit*innen werden in dem Bericht mehrfach als muslimisch dargestellt und ihre Eigenständigkeit wird damit ignoriert. Wir finden, dass Alevit*innen als Teil der betroffenen Gruppe korrekt dargestellt werden sollten, und dass dabei das Selbstverständnis und nicht Fremdzuschreibungen ausschlaggebend sind.
Der Brief wird von uns auf unseren eigenen Kanälen veröffentlicht, weil wir überzeugt davon sind, dass ein offener und transparenter Diskurs notwendig ist, um das gemeinsame Ziel zu erreichen
Sehr geehrte Bundesministerin Faeser,
Sehr geehrter Expert*innenkreis Muslimfeindlichkeit,
der Lagebericht „Muslimfeindlichkeit – Eine deutsche Bilanz“ greift viele wichtige aktuelle Bedarfe und Herausforderungen zum Antimuslimischen Rassismus auf, über die es längst überfällig ist, zu sprechen. Die Alevitische Jugend kann vieles bestätigen und unterstützt den Kampf gegen die Diskriminierung von Muslim*innen und muslimisch gelesenen Menschen. Gerade wegen letzterem ist es wichtig dass Alevit*innen auch in diesem Bericht genannt werden.
In welcher Art und Weise das geschieht, ist für uns als alevitische Organisation nicht zufriedenstellend. Alevit*innen werden in dem Bericht mehrfach als Muslim*innen dargestellt und nur an einer Stelle geht etwas hervor, was die Selbstdarstellung der alevitischen Organisationen ist. Das Selbstverständnis sollte eine ausschlaggebende Perspektive sein, um diese zu respektieren und nicht Fremdzuschreibungen oder verkürzte Informationen zu reproduzieren. Im Folgendem gehen wir auf konkrete Stellen ein, um unsere Kritik deutlich zu machen. Wir hoffen, dass es im nächsten Bericht und in der Nutzung des Berichts berücksichtig wird.
Seite 80: „Dass Frauen mit Hijab als einheitliche Gruppe konstruiert und angesprochen werden, gilt auch für die Thematisierung und Kritik, die sie durch feministische Organisationen erfahren. Die prominentesten Beispiele sind der Frauenrechtsverein TERRE DES FEMMES (2006) und das feministische Magazin Emma, deren Kritik an patriarchalen Strukturen bei Muslim*innen in besonders verschärfter Art und Weise stattfindet. Dabei werden Kontextualisierungen wie unterschiedliche religiöse oder kulturelle Praktiken und Sozialisierungen, muslimische Vielfalt sowie die Community bzw. Gemeindezugehörigkeit (z. B. Ahmadiyya, Alevit*innen, Sunnit*innen, Schiit*innen sowie verschiedene Strömungen innerhalb der diversen Gemeinden etc.) nicht berücksichtigt und ausgeblendet. Das Ausblenden dieser variierenden Kontexte führt zur Pauschalisierung von Muslim*innen und stilisiert sie zu Opfern einer mutmaßlich von Männern dominierten Religionsgemeinschaft.“
An dieser Stelle geht es darum, dass Kontextualisierungen nicht berücksichtigt oder ausgeblendet werden und genau das wird mit der Aufzählung von Alevit*innen auch gemacht. Die alevitische Community hat durch die Alevitische Gemeinde KdöR (AABF) Rechte erlangt, die das Alevitentum als eigenständige Religionsgemeinschaft bestätigen in Deutschland. Seit der Gründung der AABF und des BDAJ wird darum gekämpft, dass die Eigenständigkeit akzeptiert wird – sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik. Die alevitische Identität wird immer wieder fremdbestimmt, insbesondere von muslimischen Akteur*innen und Menschen. In Deutschland besteht immer wieder das Problem, dass die bundesweit tätigen alevitischen Organisationen häufig gar nicht erst gefragt werden, sondern Aussagen über sie getroffen werden.
Seite 160: „In einer Onlinebefragung der Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe zu Angeboten der Kinder- und Jugendarbeit im Projekt „MuTJugend“ wurde eine große Anzahl junger Menschen erreicht, die sich als Muslim*innen verstehen (80,1 %). Befragt nach ihrer Nutzung bestehender Angebote zeigte sich, dass für sie muslimische oder alevitische (Jugend-)Gruppen eine große Bedeutung haben und im Vergleich mit anderen Angeboten deutlich öfter besucht werden (vgl. Böllert et al. 2020: 9).“
Hier und auch in der genannten Studie werden muslimische und alevitische Inhalte nicht getrennt, sondern als eins betrachtet, indem es zusammen genannt ist. Es fehlt eine Erklärung dazu, warum es so gemacht wird oder wie die Zahlen getrennt aussehen. Es mag sein, dass die Zahlen für den alevitischen Teil nicht hochgenug sind, um es alleinstehend darzustellen. Dennoch gibt es dafür bessere Ansätze, als Gruppen zusammenzufassen. Das ist besonders in diesem Lagebericht sehr wichtig, weil an keiner Stelle, wo Alevit*innen genannt werden, hervorgeht, dass es sich um eine eigenständige Religionsgemeinschaft handelt – nur an einer Stelle und das ohne Nennung einer Quelle. Die erlangten Rechte und die Selbstdarstellung der beiden großen alevitischen Organisationen werden somit ignoriert. Das kann negative Auswirkungen haben, weil diese Rechte hart erkämpft wurden – was zu weiteren Marginalisierungen führen kann. Diese Konstruktion einer homogen erscheinenden Gruppe wird der tatsächlichen Heterogenität muslimisch gelesener Menschen nicht gerecht.
Seite 161: „Die Anerkennung und Repräsentanz von Vielfalt muslimischen Lebens (von säkular bis religiös praktizierend) bzw. von Glaubensgemeinschaften (Ahmadiyya, Sunnitentum, Schiitentum, Alevitentum etc.) sind wichtige Voraussetzungen für eine zielgerichtete Angebotsstruktur muslimischer Kinder- und Jugendhilfe.“
Auch hier werden wir zusammengefasst, weil es um die Angebotsstruktur muslimischer Kinder- und Jugendhilfe geht. Die Komplexität, mit der wir es zu tun haben, geht hier völlig unter. Auch, dass die Anerkennung und Repräsentanz sehr unterschiedlich ist bei den genannten Glaubensgemeinschaften. Wir befürworten, dass alle Glaubensgemeinschaften toleriert werden nach unserem Grundgesetz.
Seite 163: „Vereine von jungen Muslim*innen, die sich je nach Schwerpunkt mit unterschiedlicher Gewichtung an islamischen Werten orientieren und unabhängig von den etablierten Erwachsenenverbänden bestehen, hegen nicht zwangsläufig den Anspruch, Orte für Spiritualität oder Glaubenspraxis zu sein. Sie verorten sich jeweils als muslimische Bildungs-, Freizeit-, Frauen- oder Jugendorganisationen. Die Mitglieder dieser Organisationen sind oft unterschiedlicher ethnischer (albanisch, türkisch, bosnisch, arabisch etc.) und konfessioneller Herkunft (alevitisch, sunnitisch, schiitisch etc.).
Hier verorten sich alle, die gemeint sind als muslimisch. In der Aufzählung der konfessionellen Herkunft stehen wir dann drin. Die Ausführungen weiter oben gilt auch für diese Stelle.
Seite 163: „Diese Vielfalt führt auch innerhalb von muslimischen Jugendverbänden dazu, dass verschiedene Vorstellungen und Positionen von Religion in der Jugendarbeit existieren. Ein Beispiel dafür ist der anerkannte Jugendverband Bund der Alevitischen Jugend, der sich aufgrund der Eigenständigkeit des Alevitentums als anerkannte Religionsgemeinschaft in der Mitgliedschaft sowohl muslimisch wie auch nicht-muslimisch verortet.“
In diesem Abschnitt werden wir erst als muslimischer Jugendverband dargestellt, dann wird über unsere Mitgliedschaft gesprochen ohne Nennung einer Quelle. Problematisch im ganzen Bericht ist, dass eine beschriebene Komplexität und Vielfalt nicht ausgeführt wird und deswegen unzureichend ist. Wir wollen nicht, dass Alevit*innen als Hauptgruppe in diesem Bericht genannt und thematisiert werden. Wünschen uns allerdings eine korrekte Darstellung von Alevit*innen, als Teil der von Antimuslimischen Rassismus betroffenen Gruppen.
Weiterhin widerspricht sich der Lagebericht, wenn er bemerkt, dass es einerseits keine muslimischen Organisationen innerhalb des Bundesjugendrings gibt und der BDAJ und Alevit*innen andererseits als muslimisch beschrieben werden. Ferner fehlt dabei eine Kontextualisierung der Aufnahme, da es ein Aufnahmeprozess ist, bei dem am Ende die Mitgliedsorganisationen entscheiden, den auch der BDAJ durchgehen musste und welcher auch für den BDAJ herausfordernd war.
Wir halten es für äußerst wichtig, sich mit dem Problem des Antimuslimischen Rassismus auseinanderzusetzen, um effektiv dagegen vorzugehen. Und empfinden den Lagebericht insoweit als Schritt in die richtige Richtung.
Es ist jedoch essenziell, ein realistisches Bild der Personen, die von Antimuslimischem Rassismus betroffen sind, abzubilden. Das heißt, dass auch die Heterogenität der Gruppe sich in dem Bericht korrekt widerspiegeln sollte. In Zukunft wäre es hilfreich die Perspektive von allen genannten betroffenen Personengruppen stärker zu berücksichtigen und Betroffene einzubinden, auch bei einzelnen Nennungen. So wird missverständlichen oder sogar schädlichen Darstellungen entgegengewirkt.
Wir hoffen, mit diesem Brief eine konstruktive Diskussion anzuregen. Wir veröffentlichen diesen Brief, weil wir überzeugt davon sind, dass die Debatte öffentlich und transparent geführt werden muss.
Wir stehen gerne für einen weiteren Austausch zur Verfügung und freuen uns über eine Rückmeldung.
Mit humanistischen Grüßen
Bundesvorstand des Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland