30 Jahre Sivas Madımak – Progrome verjähren nicht

2023 jährt sich das Massaker in Sivas zum 30. Mal. Damit nähert sich uns ein trauriger Gedenktag. Der BDAJ erinnert und gedenkt, denn die Organisierung junger Alevit*innen beim Gedenken und Konsequenzen Fordern hat zur Gründung des BDAJ geführt. Bis zur jüngsten Vergangenheit wurde der alevitische Glaube und die Erinnerungskultur noch im Verborgenen gelebt, doch heute ist es öffentlich möglich und wichtig, das zu tun. Diese Erinnerungsarbeit ist wichtig für eine gesellschaftliche und politische Anerkennung der Alevitischen Identität. Wichtiger ist allerdings, dass die Opfer nicht vergessen werden und die Täter – und alle, die sie gedeckt, unterstützt und freigesprochen haben – zur Rechenschaft gezogen werden!

Am 2. Juli 1993 kam es durch einen Brandanschlag auf ein alevitisches Kulturfestival und anschließend auf das Tagungshotel Madımak in der türkischen Provinz Sivas zu einem Wendepunkt der alevitischen Bewegung. Der Anschlag, der von einem islamistischen Mob durchgeführt wurde, „ist eins der wichtigsten Ereignisse der jüngeren alevitischen Geschichte“.[1]

An diesem Tag versammelte sich eine wütende Menschenmasse von tausenden radikalen Fundamentalist*innen, nach dem Freitagsgebet in der Moschee, vor dem Tagungshotel Madımak. Dort befanden sich alevitische Personen, Schriftsteller*innen, Musiker*innen und Dichter*innen. Sie waren Teilnehmende und Gäste des Festivals. Es wurden Brandsätze gegen das Hotel geworfen, wodurch sich ein Feuer ausbreitete. Zugleich wurden die Ausgänge blockiert und die Menschen im Hotel konnten nicht ins Freie gelangen.

33 mehrheitlich alevitische Menschen, davon zwei Minderjährige, wurden am lebendigen Leibe verbrannt, während die Menschenmasse von außen zuschaute und das Staatsfernsehen stundenlang live berichtete.[2] Es wird von 33 oder 37 Menschen gesprochen, da zwei der Täter beim Brandlegen und zwei Hotelmitarbeiter ebenfalls ums Leben kamen. Aufnahmen belegen, wie Polizist*innen der Menge halfen und sowohl Militär als auch Feuerwehr tatenlos zusahen.[3]

Im Internet sind einige Videos aufzufinden, in denen deutlich erkennbar ist, wie die Menschenmasse vor dem Hotel stehend den Brandanschlag anfeuert, einige mit ihren Kindern auf den Schultern zuschauen und schreien: „Das ist das Feuer Gottes, verbrennt sie!“.[4]

Zahlreichen verurteilten Tätern gelang in den 1990er Jahren die Flucht nach Europa, unter anderem in die Bundesrepublik Deutschland.[5] Der Brandanschlag in Sivas wurde im Nachhinein wiederholt beschönigt und verharmlost, als handle es sich nicht um einen gezielt rassistisch motivierten Angriff auf Alevit*innen – beispielsweise wurde hinterher in den türkischen Medien und Politik gesagt, dass dem Volk nichts passiert sei. Noch heute kann in den Medien verfolgt werden, wie immer wieder die Gräber und Gedenkmauern der Opfer geschändet und zerstört werden.

Das Gerichtsverfahren zog sich über Jahre und nahm den Angehörigen die Hoffnung, dass die Täter des Massakers rechtmäßig verurteilt werden.

„Nach einem 19 Jahre andauernden Strafverfahren stellte am 13. März 2012 das türkische Strafgericht in Ankara am 27. Verhandlungstag das Verfahren gegen die Drahtzieher und Täter des Massakers an Aleviten im Jahre 1993 in Sivas ein. Die von der AKP dominierte türkische Justiz erklärte die Massaker für verjährt. Die Angeklagten wurden von 28 Strafverteidigern vertreten, die sich aus AKP-Abgeordneten, AKP-Ministern, AKP- Bürgermeistern, AKP-Stadträten und AKP-Kreisvorsitzenden zusammensetzten“.[6]

Für Personen, die in einer Diaspora leben, nimmt die Erinnerung eine bedeutende Rolle im Leben ein, denn oft halten sie an den Erinnerungen des Herkunftsortes fest. Auch für Alevit*innen sind die Erinnerungen an das Herkunftsland und die damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen als Grundelemente der alevitischen Erinnerungskultur zu verstehen. Martin Sökefeld erklärt Folgendes über die Debatte der Erinnerung:

„Not only is memory based on a particular community, but community is constituted by shared memory, Individuals become members of a community by sharing particular strands of memory. A community is therefore always a ‘community of remembering”.[7] Zur Erinnerungskultur schreibt Beatrice Hendrich, dass “Handlungen kultureller und gesellschaftlicher Art be- und aufgewertet [werden], indem man sie zum Gedenken an Sivas, in Gedenken an die Opfer, um der Verhinderung einer weiteren Katastrophe wie in Sivas willen begeht.” [8]

Die Erinnerungskultur ist für die alevitische Gemeinschaft von großer Bedeutung, denn laut Ismail Kaplan ist das Gedenken der Opfer zu einem Teil der alevitischen Identität geworden.[9]

Nach dem 02. Juli 1993 haben in Deutschland sehr viele Proteste, Trauer- und Gedenkveranstaltungen stattgefunden. Durch eine hohe Teilnahme von jungen Alevit*innen entstand die Notwendigkeit sich zu organisieren, weshalb sie im nächsten Jahr schon den BDAJ (damals AAGB) gegründet haben. Darüber hinaus nimmt der Brandanschlag in Sivas eine zentrale Rolle in der Erinnerungskultur der Alevit*innen ein. Das jährliche Gedenken an die Opfer in Sivas ist zu einer Kontinuität geworden, infolgedessen ein Gefühl der Verbundenheit mit den Opfern und deren Angehörigen entsteht. Die Ereignisse von Sivas sind als traumatische Ereignisse der Vergangenheit durch stetige Erinnerung Fixpunkte des kulturellen Gedächtnisses geworden.[10]

Anders als bei den Massakern in den Städten Maraş/Mereş oder Çorum handelt es sich bei dem Brandanschlag in Sivas um ein mediales Ereignis, da sich die Nachrichten über den Anschlag sofort auch außerhalb der Türkei verbreiten konnten und dadurch einen bleibenden Schaden im Gedächtnis der alevitischen Gemeinschaft hinterließ.[11]

Die Verurteilung der Täter hat nicht (ausreichend) stattgefunden, die mehrheitlich türkisch-sunnitischen Menschen (oder solche mit diesem Hintergrund in Deutschland) erkennen das Pogrom als solches nicht an und es gibt keine politischen oder juristischen Konsequenzen. Deswegen ist das Erinnern nicht nur ein Gedenken an die Opfer, sondern zusätzlich eine Form des Protestes, weil z.B. Demonstrationen und Kundgebungen organisiert werden.

Deutschland gewährt den Tätern Asyl, gefährdet hier lebende Alevit*innen und versagt damit als demokratischer sozialer Rechtsstaat.

Mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nicht! Deshalb fordern wir eine (Wieder-) Aufnahme des Strafverfahrens. In Europa und Deutschland lebende Täter müssen juristisch verfolgt und zur Rechenschaft gezogen werden!

Der BDAJ fordert, dass der Gedenktag an das Massaker in Sivas mehr Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit bekommt.

Der BDAJ fordert, dass die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft, die Deutschland ist, vielfältig gestaltet wird und das jedes Gedenken seinen Raum bekommt.

Der BDAJ fordert, dass Maßnahmen gefördert werden, die zu einer jungen pluralen Erinnerungskultur beitragen, um ein gemeinsames Erinnern von Morgen zu gestalten.

[1] Sökefeld, Martin (2008a): Aleviten in Deutschland. Unter Mitarbeit von Martin Sökefeld: Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München.
[2] vgl. Gorzewski, A. (2010). Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam; sowie Sökefeld, M. (2013). Die Geschichte der alevitischen Bewegung in Deutschland, in: Eitler, F. (Hrsg.), Aleviten in Deutschland. Grundlagen, Veränderungsprozesse, Perspektiven, 2. Aufl., 18-28. Berlin: EZW.
[3], [5], [6] Aksünger-Kizil, Handan; Kahraman, Yilmaz (2018): Das anatolische Alevitentum. Geschichte und Gegenwart einer in Deutschland anerkannten Religionsgemeinschaft. Hamburg: Landeszentrale für Politische Bildung.
[4] Triggerwarnung: Im folgenden Video sind Aufnahmen vom Brandanschlag in Sivas zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=qWocQ0HCgF8 (letzter Zugriff: 28.12.2021).
[7], [11] Sökefeld, Martin (2008b): Struggling for recognition. The Alevi Movement in Germany and in transnational space. New York: Berghahn Books.
[8] Hendrich, B. (2008). Alevitische Geschichte erinnern in Deutschland. In: M. Sökefeld (Hrsg.), Aleviten in Deutschland: Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, 37-64. Bielefeld: Transcript.
[9] Kaplan, I. (2013): Glaubensgrundlagen und Identitätsfindung im Alevitentum, S. 33. In: Eißler, F. (2013): Aleviten in Deutschland, Berlin: EZW. Sowie [2]
[10] Loth, Martina (Hg.) (2016): Die Türkei im Spannungsfeld von Kollektivismus und Diversität. Junge Perspektiven der Türkeiforschung in Deutsch-land. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.